Röslau – Wunsiedel
Den kompletten Verlauf des Jean-Paul-Wegs finden Sie hier: Literaturportal Bayern
Dienstag, 14. August 2012. In Röslau fanden wir gestern noch einen echten Tante-Emma-Laden, namens »Wunschel«. Zwei ältere Damen saßen auf zwei Stühlen, die man draußen vor den Laden gestellt hatte, und hielten ein Schwätzchen. Ich wartete mit Fidel draußen und Peter machte den Einkauf, der dann etwas länger dauerte, ihn aber in helle Begeisterung versetzte:
»Alles, was man braucht, kriegt man hier! Ist zwar alles Kraut und Rüben, aber es gibt noch Salzheringe aus dem Eimer! Jetzt rate mal, was es morgen bei uns gibt?«
Am Abend dann hatte die Flaschenbierschwägerin Peter erzählt, dass es schon Herbst wird.
»Wieso, wir haben doch erst Mitte August?«, fragte Peter erstaunt.
»Bei uns is des anders. Wenn’s Korn vo die Felder is und die Ballen liegn, dann fangt da Herbst a. Dann kann man abends auch nicht mehr draußen sitzen. Bei uns is des scho ziemlich rau hier.«
So beschrieb sie ihre Heimat und packte Peter die letzten Flaschen vom gehaltvolleren Papst-Benedikt-Bier ein, die wir dann zum Einschlafen tranken. Mit des Papstes Segen ruhte es sich noch einmal so gut.
Am nächsten Morgen ist es aber knalleheiß. Der Anfang des Weges zeigt sich schattenlos. Wir mühen uns über den heißen Asphalt des Gewerbegebietes von Röslau und stoßen am Rande auf Stationstafel 50.
Wieviel Dinge braucht der Mensch?
»[…] Nimm dich zusammen und betrachte unsern Schuhflicker: tunkt er nicht ebenso freudig in seine blecherne Sauciere ein, in der sich zugleich
der Braten ausstreckt? – Du sitzest hinter deinem Nähkissen und kannst nicht sehen, daß die Menschen toll sind und schon Kaffee, Tee und Schokolade aus besondern Tassen, Früchte, Salate und
Heringe aus eignen Tellern, und Hasen, Fische und Vögel aus eignen Schüsseln verspeisen – Sie werden aber künftig, sag’ ich dir, noch toller werden und in den Fabriken so viele Fruchtschalen
bestellen, als in den Gärten Obstarten abfallen – ich tät es wenigstens, und wär’ ich nur ein Kronprinz oder ein Hochmeister, ich müßte Lerchenschüsseln und Lerchenmesser, Schnepfenschüsseln und
Schnepfenmesser haben, ja eine Hirschkeule von einem Sechzehn-Ender würd’ ich auf keinem Teller anschneiden, auf dem ich einmal einen Acht-Ender gehabt hätte – – […].«
Am Morgen nach dem Kusse setze Firmian sich wieder auf seinen kritischen Schöppenstuhl und beurteilte. Er hätte ein Heldengedicht machen können, so wenig sausten die bisherigen Passatwinde der Morgenstunden. Er zeigte der Welt von früh 8 Uhr bis mittags um 11 Uhr das Programm des Dr. Franks in Pavia günstig an, […]. Er beurteilte, lobte, tadelte und exzerpierte das Werkchen so lange, bis er glaubte, er habe damit so viel Papier vollgemacht, daß der Ehrensold für das Papier dem Pfandschilling für die Heringschüssel, für die Saladière und Saucière und den Teller beikomme – nämlich einen Bogen lang war seine Meinung über die Rede, und 4 Seiten und 15 Zeilen.
Jean Paul »Siebenkäs«
Blumen-, Frucht- und Dornenstücke oder Ehestand, Tod und Hochzeit des Armenadvokaten Firmian Stanislaus Siebenkäs im Reichsmarktflecken Kuhschnappel, kurz »Siebenkäs«
Roman, 1796–97 in Berlin veröffentlicht
Während ich die Stationstafel lese, »klettert« Fidel mit seinen Vorderpfoten an meinen Beinen hoch, streckt sich mir so weit er kann entgegen und sagt: »Ich weiß die Antwort: Gefährten, ein
Zuhause und Freude.«
Unser Weg heute ist breit und steinig. Sengend, brennend. Er scheint uns ein wenig gnadenlos, wie der »Camino«, der Jakobsweg, der in Spanien über karge Höhen zieht. Endlos. Wir kennen das Bild
nur aus Bildern. Aber wir fühlen ein bisschen so. Kleine Staubwolken tänzeln hinter unseren Fersen. Am Wegesrand kein einziger Busch, kein einziges Gewächs, für Fidel gibt es nichts zu
schnuppern. Er hechelt, ich gebe ihm Wasser. Wie gerufen kommt jetzt die gute Bank am Rande des Weges.
Und Stationstafel 51.
Beim Gehen
Die Bank am Wege erfreut als Zeichen des Kosmopolitismus.
Welch seltsam ruhiges Gefühl bei dem bloßen Spazierengehen auf einer Landstraße, wenn man die Reisenden in hastigem Fortfahren darauf siehet.
Kein Mensch kann einen Spaziergang machen, ohne davon eine Wirkung auf seine Ewigkeit mit nach Hause zu bringen – so gewiß jedes Spornrad [ein Stachelrad in einem Sporn], jeder Himmels- und Ordensstern, Käfer, Fußstoß, Handschlag sich in uns so gut eingräbt, als in den Granitgipfel ein leiser Tonfall und das Bestreifen einer Nebelwolke.
Ich habe Angst, dass ich mich beim Schreiben wiederhole. Und dass ich mich immer wieder an so vielen Kleinigkeiten störe, die mir begegnen. Dieses ewige Hochkommen von unliebsamen Gefühlen. Ich will sie wegschieben und versage. Gefühle werden zu Gedanken, und die wüten, wie sie wollen. Werden sie wenigstens neue Weisheiten erfinden? Warum neue? Taugen die alten nichts – oder langweilen sie schon? Es ist wie auf dem Jahrmarkt.
Ach komm’ Hilde, lauf, lauf einfach weiter …
Das Korn ist tatsächlich abgemäht. Um uns herum Stoppelfelder, die in der Ferne braun schimmern, so als ob sie schon gepflügt wären. Tatsächlich erkennen auch wir die Vorboten des Herbstes, erst jetzt bewusst. Nun, wo wir doch hin zum Frühling wandern, zum 21. März, nach Wunsiedel, wo Jean Paul als Johann Paul Friedrich Richter 1763 in die Welt kam: … Nachts ein Uhr dreißig wird das Kind geboren, … beginnt Günter de Bruyn Jean Pauls Biografie, … es lebt und ist gesund, was damals als selbstverständlich nicht gelten kann. Von den sieben Kindern, die Rosine Richter im Laufe ihrer Ehe zur Welt bringt, überleben zwei die ersten Tage nicht. … Dann weiter: … Es ist die Nacht zum 21. März. Mit dem Kind zugleich kommt der Frühling, wie immer sehnlich erwartet. Noch ist auch das Leben der Städter stärker dem Wechsel der Jahreszeiten unterworfen. Die Straßen sind im Winter kaum passierbar. In den meist zu engen Wohnungen der Kleinbürger ist selten mehr als eine Stube heizbar. Kerzen, Kienspan oder Ölbeleuchtung geben miserables Licht. Das macht die Freude verständlich, mit der noch der alte Jean Paul immer wieder betont, dass der Frühling und sein Leben zugleich begonnen haben. Die Tag- und Nachtgleiche scheint ihm in Beziehung zu stehen zu seinem »Doppelstil«, dem humoristisch-satirischen und dem pathetisch-sentimentalen, er zählt die Zugvögel auf, die mit ihm zusammen anlangten, und er weiß die Pflanzen zu nennen, deren Blüten man hätte auf seine Wiege streuen können: Scharbockskraut, Ackerehrenpreis oder Hühnerbißdarm – Namen, die sich anhören als seien es seine Erfindung. Nachzulesen ist das im Fragment seiner Autobiografie (Selberlebensbeschreibung), die erst nach seinem Tode veröffentlicht wurde. …
Vernachlässigen wir einmal die historischen Details der unzähligen deutschen Kleinstaaten, Kleinkriege, Friedensverträge, Preußen, Bayern usw., so kann man mit de Bruyns Worten zusammenfassend sagen: … er in einem winzigen Feudalstaat (das Fürstentum Bayreuth) aufwächst, und zwar nicht unter Adligen oder Patriziern, sondern unter Kleinbürgern und Bauern. …
Sein angeborener Status
Die Perspektive seines Lebens ist die von unten. Sein Vater und auch sein Großvater waren Lehrer und Schulmeister. Das war damals, im Gegensatz zu heute, eine Elendsexistenz. Aus Günter de Bruyn »Das Leben des Jean Paul Friedrich Richter«: … Das Erste, was ein armer Kandidat beim Antritt einer Schulstelle machen musste, waren Schulden. Denn das Amt musste erkauft werden; das des Kandidaten Richter in Wunsiedel 1760 für fünf Gulden – für mehr als die Hälfte eines Monatsgehalts, das so gering war, dass auch nur einen Pfennig zur Schuldentilgung von ihm einzusparen unmöglich schien. Nach Erhöhung im zweiten Jahr belief sich das Jahresgehalt des Tertius Richter auf 119 Gulden. Zur Erhaltung einer Familie reichte das nur aus, wenn viele Taufen, Hochzeiten und Leichenfeiern ein paar Sondergroschen für Orgelspielen einbrachten oder die Erhöhung der Schülerzahl den Anteil am Schulgeld vergrößerte. Denn kostenlos war der Schulbesuch nur für die Ärmsten der Armen. …
Der Vater war also nicht nur Lehrer, sondern auch Organist und Pfarrer. Pfarrer, weniger aus religiösen Gründen, vielmehr weil das Studium der Theologie nichts kostete. Bald darauf bekam der Vater eine besser dotierte Stelle in Joditz angeboten. Die Familie zog um, da war der kleine Johann Paul Friedrich zwei Jahre alt.
So kann man sich im nahen Wunsiedel also sein kleines, junges Dasein vorstellen. Er wird hier Laufen gelernt haben.
Jean Paul war arm, aber durch die Bildung seines Vaters hatte er eine riesengroße Möglichkeit, denke ich mir. Bildung ist der Zugang nicht nur zu Wissen, sondern im Besonderen zu Denken, Fühlen, Kontinuität und Bewusstsein. Das machte ihn Durststrecken überleben, Zusammenbrechen im Leid mildern, um sich kurz vor dem immerkommenden Ertrinken wieder an Erinnerungen oder an etwas Selbsterschaffenem festzuhalten, wenn sonst nichts und niemand da ist. Auch wird Natur für ihn immer das einzig Verlässliche sein, das ihm somit Vertrauen schenkt. Sie ist stark, sie ist ehrlich, sie ist immer da und wird immer noch da sein, auch wenn er längst nicht mehr da ist.
Jean Pauls Geburt am Frühlingsanfang war ihm Hoffnung und Auftrag zugleich. In seiner »Selberlebensbeschreibung« schreibt er:
… Tief hinunterreichende Erinnerungen aus den Kindjahren erfreuen, ja erheben den bodenlosen Menschen, der sich in diesem Wellendasein überall festklammern will, unbeschreiblich und weit mehr als das Gedächtnis seiner spätern Schwungzeiten; vielleicht aus den zwei Gründen, daß er durch dieses Rückentsinnen sich näher an die von Nächten und Geistern bewachten Pforten seines Lebens zurückzudrängen meint und daß er zweitens in der geistigen Kraft eines frühen Bewusstseins gleichsam eine Unabhängigkeit vom verächtlichen kleinen Menschkörperchen zu finden glaubt. …
Die über alles hinwegtragende Geborgenheitserfahrung des Getragenwerdens
Weiter schreibt Jean Paul dann: … Ich bin zu meiner Freude imstande, aus meinem zwölf-, wenigstens vierzehnmonatlichen Alter eine bleiche kleine Erinnerung, gleichsam das erste geistige Schneeglöckchen aus dem dunkeln Erdboden der Kindheit noch aufzuheben. Ich erinnere mich nämlich noch, daß ein armer Schüler mich sehr lieb gehabt und ich ihn und daß er mich immer auf den Armen – was angenehmer ist als oft später auf den Händen – getragen und daß er mir in einer großen schwarzen Stube der Alumnen Milch zu essen gegeben. Sein fernes nachdunkelndes Bild und sein Lieben schwebte mir über spätere Jahre herein; leider weiß ich seinen Namen längst nicht mehr; aber da es doch möglich wäre, daß er noch lebte hoch in den Sechzigern und als vielseitiger Gelehrter diese Vorlesungen in Druck vorbekäme und sich dann eines kleinen Professors erinnerte, den er getragen und geküßt – – ach Gott, wenn dies wäre, und er schriebe oder der ältere Mann zum alten käme! – Dieses Morgensternchen frühester Erinnerung stand in den Knabenjahren noch ziemlich hell in seinem niedrigen Himmel, erblaßte aber immer mehr, je höher das Taglicht des Lebens stieg; – und eigentlich erinnere ich mich jetzo nur dies klar, daß ich mich früher von allem heller erinnert. – …
Oder die durch Erzählungen erinnerte Begebenheit aus dieser Zeit: … Meine Eltern waren mit mir als 5 Monat altem Kinde zu seinem (des Großvaters) Sterbelager gereiset. Er war im Sterben, als ein Geistlicher (wie mir mein Vater öfter erzählt) zu meinen Eltern sagte: lasset doch den alten Jakob die Hand auf das Kind legen, damit er es segne. Ich wurde in das Sterbebett hineingereicht und er legte die Hand auf meinen Kopf – – Frommer Großvater! Oft hab’ ich an deine im Erkalten segnende Hand gedacht, wenn mich das Schicksal aus dunklen Stunden in hellere führte; und ich darf schon den Glauben an deinen Segen festhalten in dieser von Wundern und Geistern durchdrungenen, regierten und beseelten Welt! …
Am Ende des Sommers ist Ernte
Nun wandern wir wieder in ein Tal. Da liegt das Dorf Biberbach. Jetzt wäre ein Gasthaus fein, aber Peter hat es erfragt: seit acht Jahren gibt es keines mehr. Also weiter, wieder bergan, dieses Mal auf einem Tannenzapfenpfad direkt neben der Straße, die durch einen Wald führt. Von der Seite her weht Heuduft bis ins Wäldchen und Stationstafel 52 in unseren Sinn.
Was da fliegt und kreucht
Wie der alte und ewige Ausbau des Blättchens und dessen Käfers eine stehende Vorsehung ist: so ist die Geschichte beider Wesen und der Völker eine wandelnde.
Mancher witzige Einfall sticht gleich den Bienen nur einmal.
Der schönste Sommervogel indes, ein zarter blauer Schmetterling, welcher den Helden in der schönen Jahrzeit umflatterte, war seine erste Liebe. Es war ein blauaugiges Bauernmädchen seines Alters, von schlanker Gestalt, eirundem Gesicht mit einigen Blatternarben, aber mit den tausend Zügen, welche eben wie Zauberkreise das Herz gefangennehmen.
Jean Paul »Selberlebensbeschreibung«
… er (Quintus Fixlein) wagte sich ohne Baubegnadigung an die
Baute eines Lehmhauses, nicht für Bauern, sondern für Fliegen; daher man es gut in die Tasche stecken konnte. Dieses Mückenhospital hatte seine
Glasscheiben und einen roten Anstrich und besonders viele Alkoven und drei Erker: denn Erker liebte er als ein Haus am Hause von jeher so sehr, daß es ihm in Jerusamlem schlecht gefallen hätte,
wo (nach Lightfoot) keine gebaut werden durften. Aus den blitzenden Augen, womit der Baudirektor seine Mietsleute an den Fenstern herumkriechen oder aus dem Zuckertroge naschen sah – […], und
nur ein solches Mücken-Louvre war (ihm) gerade ein nettes Bürgerhaus. –
Jean Paul »Leben des Quintus Fixlein«
Oben auf dem Berg, am Waldrand, eröffnet sich uns dann ein grandioser Blick. Und da ist auch eine Bank.
»Hinten, in der Senke, da muss Wunsiedel liegen«, mutmaße ich.
Und vor uns, auf einem Feld, da sehe ich sie jetzt: die Strohballen, von der die Flaschenbierschwägerin gesprochen hatte. Ein kleiner Traktor darf sie aufsammeln.
Es geht weiter am Waldrand entlang. Dann vernehmen wir ein konstant brummendes Motorengeräusch.
»Pass auf, das ist ein Stromgenerator!«, antwortet Peter auf meinen fragenden Blick.
Und siehe da, da entdecken wir hier oben, so völlig in Alleinlage, ein Wochenendhaus, rundum halbhoch eingezäunt. Am Zaun hängt gut sichtbar ein Schild. Wir lesen: »Goethe war nie hier - auch Jean Paul nicht! FGV.«
War Jean Paul hier?
Vor dem kleinen Haus sitzen zwei ältere Leutchen auf einer Bank. Anscheinend haben sie uns beobachtet und machen sich jetzt bemerkbar:
»Ja, sie lesen richtig: Goethe war nie hier und Schooh Pol auch nicht«, meint der Mann.
»Hm, versteh’ ich nicht. Ich meine, es geht ja nicht darum, dass er hier war, sondern darum, dass er in Wunsiedel geboren wurde«, kommentiere ich klugredend.
»Ha, die Wanderer glauben, er war direkt hier, und dann machen sie die Wegmarkierungen ab und nehmen sie mit. Das ärgert den Fichtelgebirgsverein!«, ruft er zurück.
»Als Reliquie, quasi?«, frage ich.
»Ja, ja«, sagt dann die Frau, »das ist doch verrückt, als Zweijähriger war der wohl kaum hier im Wald!«
Wir lachen.
»Einen schönen Tag noch«, rufen wir und die beiden grüßen lustig zurück.
Heute denk’ ich mir: Wer weiß, vielleicht wurde er hier entlang getragen?
Wir laufen noch ein bisschen über die Höhe bis wir Stationstafel 53 begegnen.
Wie auf Bergen
Nur die Tiefe nebelt, nicht der Berg.
Man steigt den grünen Berg des Lebens hinauf, um oben auf dem Eisberge zu sterben.
Kurz, ich glaube fest, daß eine gewisse ideale Zartheit und Reinheit der weiblichen Seele sich auf keiner Stelle so schön entwickeln könne als auf der höchsten, dem Throne, so wie auf Bergen die schönsten Blumen blühen, von Gebirgen der feinste Honig kommt.
In phantasiereichen Menschen liegen, wie in heißen Ländern oder auf Bergen, alle Extreme eng beieinander.
Poesie soll die fröhliche Wissenschaft sein und wie ein Tod zu Göttern und Seligen machen. Wie eine Perlenmuschel muß sie jedes ins Leben geworfene scharfe oder rohe Sandkorn mit Perlenmaterie überziehen. Ihre Welt muß eben die beste sein, worin jeder Schmerz sich in eine größere Freude auflöst und wo wir Menschen auf Bergen gleichen, um welche das, was unten im wirklichen Leben mit schweren Tropfen auffällt, oben nur als Staubregen spielt.
So sucht der Mensch instinktiv nach den Freuden des Lebens, weil es sich im Jammertal nicht wohnen lässt. Man steht immer wieder auf, um sich auf den Weg zu machen und sich einen Gefährten zu suchen, denn alles ist freudlos ohne einen Gefährten. Ich sehne mich nach mehr Menschen, die uns begegnen, vielleicht so wie auf dem »Camino«, auf dem Tausende pilgern. Aber auf dem noch so jungen Jean-Paul-Weg ist das schwierig.
Ich hätte mein ganzes Leben nicht gedacht, dass das Echte-Freunde-Finden überhaupt das Schwierigste ist. Selbst in einer Familie für immer untereinander Freundschaft zu bewahren, ist schon heikel. Wie viele Familien brechen auseinander, oft weiß man gar nicht warum. Schleichend wird der eine oder andere aus dem Kreis ausgeschlossen. Das war in früheren Zeiten noch viel schlimmer. Wenn jemand homosexuell war, oder ein uneheliches Kind erwartete, oder beruflich zu kämpfen hatte, oder einfach »aus dem Mond gefallen« war, so Schiller über Jean Paul, wie schnell war man ausgestoßen, weg, und unsichtbar gemacht.
Ich höre schon die sich selbst rechtfertigenden Gedanken der Ausstoßenden: Na ja, ein bisschen ausstoßen, das ist doch gar nicht so schlimm, tut doch nicht weh, wie kann man nur so empfindlich sein, ist der ja selber schuld, wenn der so unversöhnlich ist, nicht verzeihen kann … usw.
Was da irgendwie harmlos klingt, ist in Wirklichkeit grausam. Keine Empathie zu finden ist wie Isolationshaft ohne Zelle. Und, ist man einmal auf der ausgestoßenen Seite, wird es in Zukunft nahezu unmöglich, wieder in eine Gemeinschaft, egal welche, hineinzufinden. Zu »weitweg« ist man geworden. War das die geheime und nachhaltig sehr wirkungsvolle Absicht der Ausstoßer?
Das Traurige ist, die guten Gefährten bleiben nahezu unsichtbar, denn sie treten nicht in Gruppen auf. Sie wurden ja sozusagen zu Einzelgängern gemacht. Und sie sind meistens stiller – eigentlich respektvoller – als andere.
Ein gutes Mittel, um eine Isolationshaft zu überleben, ist die Poesie. In den kleinen verbleibenden Dingen und Wesen um einen herum das göttlich Verbundene sehen zu können, vermittelt ein Bleiberecht in der Zukunft. Eine Zukunft, die weit über den Tod hinausreicht und dieses Mal vielversprechend von ewiger und geselliger(!) Dauer sein wird.
»Die Poesie ist die Aussicht aus dem Krankenzimmer des Lebens.« Jean Paul
Komm’, wir laufen einfach weiter. Hinfallen, aufstehen, weiterlaufen.
Wir gelangen zum Weiler Valetsberg. Ein paar Häuser, ein paar Scheunen, ein paar Landmaschinen, niemand da. Dann ziehen wir weiter, immer bergab, Wunsiedel ist nur noch drei Kilometer entfernt. Wieder begleiten uns betafelte Lehrpfade, jetzt der »Landschaftslehrpfad – Geologie und der Landschaftslehrpfad – Geschichte«. Ein bisschen lesen wir. »Aha, so …« und »So ist das, is’ ja interessant …«, brummeln wir vor uns hin.
Und dann, am Rand von Wunsiedel kommt eine echt lustige Tafel, wie ich finde, nämlich »Der Vogelwecker«. Er macht mich fröhlich, ich weiß gar nicht warum. Welcher Vogel fängt um wie viel Uhr an zu singen? Ach, wie süß!
Der Vogelwecker
Nachtigall - singt die ganze Nacht
Gartenrotschwanz - 2:55 Uhr
Rotkehlchen - 3:05 Uhr
Singdrossel - 3:15 Uhr
Amsel - 3:20 Uhr
Zaunkönig - 3:30 Uhr
Kuckuck - 3:40 Uhr
Kohlmeise - 3:50 Uhr
Buchfink - 4:00 Uhr
Star - 4:30 Uhr
Singvögel besitzen ein besonderes Organ, die Syrinx (ähnlich unserem Kehlkopf), welches ihnen ermöglicht, vielfältige, klangschöne und laute Töne hervorzubringen.
Mit dem Gesang lockt das Männchen zur Paarungszeit das Weibchen an, grenzt sein Revier ab und warnt männliche Zeitgenossen vor dem Eindringen. Die Singvögel bevorzugen verschiedene Singplätze, sogenannte Singwarten. Beispielsweise wählt die Amsel gerne Baumkronen, das Rotkehlchen singt oft im Gebüsch und der Zaunkönig gewöhnlich irgendwo im Unterholz. Der Beginn des Gesangs richtet sich nach dem Sonnenaufgang. Die Vögel beginnen nicht immer zur gleichen Zeit mit ihrem Gesang, jedoch immer in derselben zeitlichen Reihenfolge.
Man kann sie sich auch bei www.deutsche-vogelstimmen.de anhören.
Noch die Singvögel im Kopf zuppeln wir weiter, nach Wunsiedel hinein, ein bisschen Vorstadt, Vorgärten, Gärten mit Schaukeln, Garagen, Bolzplätze, ein Moped braust vorbei. Dann stoßen wir
auf eine Ringstraße, so deuten wir sie, und da steht eine Jean-Paul-Tafel in einem anderen, wirklich schönem Look: Dieses Mal gehört sie zum Jean-Paul-Rundweg in Wunsiedel. Hier
steht der Text schwarz auf weißem Papierbogen, gleich einem Buch.
Im Jahr 2009, justament am 21. März, wurde der restaurierte Jean-Paul-Rundwanderweg oberhalb der Stadt mit den 27 Limerick-Stationen eröffnet. Schon im Jahr 2000 hatte Studiendirektor Hartwig Küspert mit Schülern des Luisenburg-Gymnasiums den Weg entwickelt. In frechen Reimen wird hier Jean Pauls Leben nacherzählt.
Und! Die Lang-Bräu aus Schönbrunn bringt nur zu diesem Anlass, heißt es hier, ein neues Jean-Paul-Bier heraus, mit dem Jean-Paul-Weg auf dem Etikett. Huch, wir kennen das doch! Das gibt es doch immer noch. Hatten wir es nicht von der Flaschenbierschwägerin bekommen?
Wir sind zu müde, noch einmal um die Stadt herum zu laufen, obwohl die Stationen es sicherlich wert wären. Hunger und Durst treiben uns nun ins Zentrum. Laut Wanderkarte müsste jetzt bald, noch vor der Stadtmitte, die Stationstafel 54 kommen. Wir können sie aber einfach nicht finden.
Dann Peter: »Hey, Hilde, schau mal, was da steht! Ein echter Güldner!«
»Häh, was meinst du?«
»Na, da, der kleine Traktor!«
»Ach so, ja, der ist süß!«
»So tipptopp in Schuss, is ja Wahnsinn!« Und Peter zückt natürlich den Fotoapparat und fotografiert das Traktorchen von allen Seiten.
Aber ich habe Hunger und dränge ihn weiter. »Wir müssen noch die Tafel finden, das ist jetzt wichtiger.«
»Komm’ ja schon!«
Und so laufen wir weiter stadteinwärts, aber weit und breit ist keine Tafel zu sehen. Ich will unbedingt alle Tafeln fotografieren, auch schon wegen des Textes. Damals, 2012, gab es das Buch zum Weg, den literarischen Wanderführer »Jean Paul in Oberfranken« noch nicht. Außerdem habe ich den Tick, dass wenn ich die Wanderung mache, ich auch alle Tafeln wie Trophäen einsammeln will, sowie die Jakobsweg-Pilger an jedem Ort ihre Stempel abholen. So will ich es auch. Aber da kommt keine Tafel.
»Das kann ja gar nicht sein, gleich sind wir mitten in der Stadt. Ich fasse es nicht!«
»Wir müssen noch mal zurück, das hilft ja alles nichts«, meint Peter.
Der scheint noch Kraft zu haben, denke ich mir. Jammernd kehren wir um und müssen sogar bergauf laufen. Da sehen wir auch schon wieder den Güldner, wie er so schön grün-rot unter einem Bäumchen parkt.
»Die Station muss vor dem Traktor gewesen sein«, sage ich und schlappe weiter, Peter hinter mir her. Dann gelangen wir wieder zur Tafel 1 des Jean-Paul-Rundweges.
»Das gibt’s doch nicht!«, schimpfe ich.
»Die haben die bestimmt vergessen, bei den vielen Jean-Paul-Tafeln hier. Ich sage nur: Wegwarte!«, knurrt Peter.
Also wir wieder zurück, unsere Schädel brummen, Durst schreit der Körper!
Dann leuchtet schon wieder der Güldner von Weitem zu uns her. Wir verzweifeln, bleiben vor dem grün-roten Schatz stehen und verschnaufen. Dann erst bemerken wir es: Hinter dem Traktorchen steht die Tafel. Wir, maßlos geblendet von dem Relikt aus vergangenen Zeiten! Wie zwei wildgewordene, rasende Hühner. Wir Trottel! Das Schimpfen auf die Wegwarte nehmen wir zurück.
Dem Durst- und Hungertod nahe, machen wir jetzt die richtigen Fotos.
Hier Stationstafel 54 als Suchbild, mit Güldner im Vordergrund.
Das Kreuz mit den Wanderkarten
Am ersten Morgen hatte man zwei Reisen auf einmal zu tun, die auf dem Wege und die auf der Karte davon, welches ungemein beschwerlich und
lehrreich ist. Der Exkurrens trug eine aufgeschlagene Spezialkarte vor sich hin, auf der Fälbel allen leicht das Dorf zeigte, wo sie jedesmal waren; und da man auf diese Weise allemal den Füßen
mit den Fingern nachreisete: So war vielleicht Motion (Bewegung) mit Geographie nicht ungeschickt verkettet. Gegenden, Merkwürdigkeiten, Gebäude, die natürlich nicht auf der Karte
vorzuweisen waren und vor denen man doch eben vorbeipassierte, mußten aus »Büschings Neuer Erdbeschreibung« geschöpft und gelehret werden, den […] Monsieur Fechser, der Gesellschaft
allezeit über die Ortschaften vorlas, wodurch sie eben zog. Der Rektor würde von Herzen gern von den meisten Dörfern neben der neuern Geographie auch die mittlere und alte mitgenommen haben:
wären beide letztere Geographien von ihnen zu haben gewesen; aber leider zeigen nur wenige europäische Länder, wie etwan die Türkei, Ortschaften mit doppelten Namen auf. Übrigens ist der Rektor
seitdem vollkommen überzeugt, daß die homannischen Karten nichts taugen – in der Tat, wenn man auf ihnen (nicht auf der Gegend) ganze Einöden, Wasenmeisterhütten, ausspringende Winkel der Ufer
entweder ganz mangeln (wie z. B. ein Pulvermagazin nahe bei Hof und ein etwas weiter abgelegenes Spinnhaus) oder doch dasitzen in ganz falschen Entfernungen: so kann
man wohl fragen: ob, wenn man von diesen Gegenden mit der camera obscura einen Aufriß nähme und dann die Karte über den Aufriß legte, ob da wohl beide einander decken würden wie zwei gleiche
△ ? –
Jean Paul »Des Rektors Florian Fälbels und seiner Primaner Reise nach dem Fichtelberg«
Ja, ja. Peter rechnet auch die Kilometerangaben auf den Schildern nach, ob z. B. »Hin« und »Zurück« übereinstimmen. Häufig driften die Angaben auseinander. Peter ist Sternzeichen »Jungfrau«. Die haben es angeblich mit Zahlen. Also betrachte ich seine Nachrechnerei ein bisschen als Macke. Aber – an Wegkreuzungen muss man häufig nach den weiterführenden Wegplaketten suchen, weil sie meistens an Baumstämme genagelt wurden, die weitab der Kreuzung stehen. Dadurch läuft der Wanderer sehr oft eine Weile in die falsche Richtung. Nun denn, das ist und war wohl schon immer so, durch alle Jahrhunderte. Vielleicht liegt es daran, dass die Wegwarte die Wege schon kennen und sich gar nicht mehr vorstellen können, dass man sie eben nicht kennt. Wie dem auch sei: Wir haben Durst und Hunger.
»Aber wir schauen noch schnell, wo Jean Paul geboren wurde. Das muss doch im Zentrum sein, da gibt’s bestimmt auch was zu essen«, schlage ich vor. Peter stöhnt und würde lieber streiken.
Mittlerweile humpelnd und hinkend erreichen wir den Jean-Paul-Platz in Wunsiedel. Da ist aber nichts. Dann stellt sich heraus, dass es das Geburtshaus so gar nicht gibt. Jedenfalls im Jahr unserer Wanderung, 2012, noch nicht. Heute, wo ich das Wandertagebuch schreibe, im Jahr 2016, habe ich herausgefunden, dass das Jean-Paul-Geburtszimmer erst zu seinem 250. Geburtstag, am 21. März 2013, im jetzigen Ev. Gemeindehaus am Jean-Paul-Platz 5 eröffnet wurde. Das Geburtszimmer hatte man dem Bauzustand zur Zeit der Geburt Jean Pauls nachempfunden. Da die originalen Möbel nicht mehr existierten, baute man Bett und Schrank nach historischem Vorbild und strich es weiß. So kann man heute den Ort, wo Jean Paul geboren wurde, besuchen.
Öffnungszeiten und mehr kann auf der Webseite Jean-Paul-Geburtszimmer erfahren.
Außerdem gibt es in Wunsiedel ein Museum des Fichtelgebirgsvereins, in dem auch für den bekannten Sohn der Stadt ein Jean-Paul-Zimmer eingerichtet wurde. Das Fichtelgebirgsmuseum ist das größte bayerische Regionalmuseum, das, von steinzeitlichen Fundstücken angefangen, bis hin zu Kunstwerken der Gegenwart, vielseitig und reichlich Schaustücke präsentiert. Vor allem aber wird hier die Kultur der Menschen in diesem eher kälteren Landstrich warm und lebendig erzählt. Es gibt eine mittelalterliche »Schwarzen«, eine Rauch-Küche, zu sehen oder man erhält Einblicke in den hiesigen Bergbau nach Erz, Silber und Gold. Selbst Alexander von Humboldt hielt sich mehrere Jahre im Fichtelgebirge auf.
Das Museum befindet sich am Spitalhof 5 in Wunsiedel.
Ehrlich gesagt, bis dahin hatten wir es auch nicht geschafft. Das Foto entnahmen wir Wikipedia. Aber wir werden auf jeden Fall noch einmal nach Wunsiedel fahren! Schon weil Peter den Dialekt liebt.
Es ist heiß und wir schleppen uns immer noch. Unterwegs tat sich dann Gott sei Dank eine kleine Schänke auf: die »Königsstuben«. Endlich! Hier kann man sogar draußen auf Bierbänken sitzen. Uns war nicht nach Kaffee, sondern nach einem zünftigen Bier mit herzhafter Mahlzeit. All das haben wir hier bekommen und noch viel mehr. Die Wirtin ist süß und schwatzt mit uns ein bisschen. Das hört sich hier in Wunsiedel auch oberpfälzisch an, wie bei unseren Vermietern. Klingt lustig.
»Und was machens da?«, fragt sie natürlich, und wir erzählen alles vom Jean-Paul-Weg, von Hof bis nach Wunsiedel, und dass wir jetzt nach Röslau zurück zum Auto fahren müssen, aber noch nicht wissen, wann und wie.
»Verstandn hab i zwar nix, aber i bring ihna an Busfoahrplan!«, sagt sie noch, und schon war sie weg.
Das Glück winkt immer aus der Ferne
So schön! Wir nehmen einen kräftigen Zug. Plötzlich hupt es hinter uns laut und lebhaft. Wir drehen uns um und sehen einen Bierlaster vorbeifahren, aus dem ein Mann ganz kräftig zu uns hinüberwinkt. Ich gucke fragend, Peter antwortet mit freudigem Ausruf:
»Ja, das ist der Mann der Flaschenbierschwägerin! Der kennt mich. Und hat gesagt, dass er bei der Lang-Bräu Bier ausfährt.« Wir winken also kräftig zurück.
Jetzt kennen wir langsam schon die gesamte Verwandtschaft. Und irgendwie dürfen wir auch ein bisschen dazugehören, denn heute Abend warten schon zwei Stücke Kuchen von unserer Vermieterin auf der Treppe. Da müssen die Matjes noch einen Tag warten.
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